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Introvertiert vs. extrovertiert: Warum wir sind, wie wir sind

 

Ich habe mich in meinem Leben immer wieder gefragt, warum ich in manchen Situationen anders reagiere oder andere Bedürfnisse habe als viele meiner Mitmenschen. Während einige von einer Party zur nächsten rauschen, die Tage mit unzähligen Menschen in Meetings verbringen und dann auch noch mit 15 Mann in Fitnesskurse gehen, ist bei mir nach kurzer Zeit ein Overload sondersgleichen am Start.

Mein Energielevel sinkt ins Bodenlose und meine einzige Rettung: Zeit für mich. Durchatmen. Kraft tanken, damit ich wieder mitspielen kann.

Lange dachte ich, mit mir stimmt irgendwas nicht und ich bin nicht wirklich sozial-tauglich. Bis ich irgendwann verstanden habe: das ist einfach Teil meiner Persönlichkeit, denn ich bin ein introvertierter Mensch.

Die Begriffe „introvertiert“ und „extrovertiert“ hat sicher jeder schonmal gehört, doch für welche Eigenschaften in der Persönlichkeit die Begriffe genau stehen, wissen die Wenigsten. 

(Sprachlich korrekt heißt es übrigens extravertiert, aber umgangssprachlich hat sich der Begriff extrovertiert etabliert).  

 

Dabei ist es sehr hilfreich zu verstehen, wie unterschiedlich wir ticken und warum. Das ist natürlich auch von Vorteil, wenn wir unser Umfeld mal intensiver betrachten möchten :-)

 

Wo liegt der Unterschied?

Die Begriffe Introversion und Extraversion gehen auf den Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie C.G. Jung zurück. Er entwickelte in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Persönlichkeitstypologie mit unterschiedlichen Merkmalen.

Extra- und Introversion ist eines der wichtigen Unterscheidungskriterien in der Persönlichkeit und wird heute in diversen Persönlichkeitsmodellen (wie z.B. „Big Five“) aufgegriffen.

 

Introversion und Extraversion sind - wie auf einer Skala - zwei entgegengesetzte Pole einer Persönlichkeitseigenschaft, die beschreibt, wie wir mit unserem sozialen Umfeld interagieren. Das heißt aber auch, dass die Ausprägung bspw. einer introvertierten Person durchaus unterschiedlich sein kann. Introvertiert ist damit nicht gleich introvertiert, sondern es gibt durchaus „Abstufungen“.  

Während extrovertierte Menschen eher nach Außen gerichtet sind – also zur Außenwelt - richten introvertierte Menschen ihre Aufmerksamkeit mehr nach innen. Das bedeutet, dass sie ein unterschiedliches Umfeld brauchen um in ihre Kraft zu kommen, denn was für den Introvertierten anstrengend und kräftezehrend ist, mag für den Extrovertierten supercool und energiegebend sein. Was bei dem einen das Energielevel in den Keller rauschen lässt, zieht den anderen komplett in ein Hoch.  

 

Jedoch gibt es auch Personen, die sowohl introvertierte als auch extrovertierte Eigenschaften in sich tragen und keinem der Pole eindeutig zugeordnet werden können – die ambivertierten Personen (ambo = beide). Auch zentrovertierte Personen genannt, sind sie besonders flexibel und stabil im Verhalten und können sich gut anpassen. Sie können bspw. gut alleine sein, fühlen sich aber auch in größeren Menschenmengen pudelwohl.  

 

Ob jemand introvertiert oder extrovertiert ist, ist angeboren. Jedoch können das soziale Umfeld, die Erziehung oder prägende Ereignisse Einfluss nehmen. Aus einem introvertierten Menschen wird allerdings niemals ein extrovertierter Mensch und umgekehrt. In bestimmten Situationen kann es aber dennoch vorkommen, dass wir zum anderen Pol tendieren. Sind wir bspw. introvertiert, haben aber ein Erfolgserlebnis nach dem anderen, treten wir selbstsicher und damit auch extrovertierter auf. Dies ist jedoch eher eine Momentaufnahme.

 

Introversion

Sogenannte „Intros“ fokussieren sich vermehrt auf ihr Innenleben. Sie beobachten, sind häufig still und zurückhaltend. Sie brauchen Zeit für sich, um Energie zu tanken. Daher lieben sie eine ruhige Umgebung, die Natur, Bibliotheken, Parks, ihre Wohnung. Sie verbringen gerne Zeit alleine oder mit engen Freunden und Familie um sich von Reizüberflutungen diverser Arten zu erholen. Introvertierte brauchen Kontakte, ziehen jedoch schöne Stunden mit Freunden einem überfüllten Event vor.

 

Interessant ist außerdem, dass bei Intros die Hirnregionen besonders aktiv sind (Frontallappen und vorderer Thalamus), die für Erinnerung, Problemlösung und Planung relevant sind. Introvertierte beziehen also mehr Informationen in die Problemlösung ein. Allerdings verlieren sie sich dabei oft selbst und sichern sich lieber noch fünfmal ab, bevor sie eine Entscheidung treffen und ins Handeln kommen.  

 

Stärken der Intros

  • empathisch & mitfühlend  
  • gute Beobachter, Zuhörer & Ratgeber
  • bedächtig & selten im Affekt handelnd  
  • ruhig & besonnen
  • vertrauenswürdig & zuverlässig
  • Fähigkeit, gut alleine zu sein oder auch alleine arbeiten zu können, ohne sich zu langweilen oder sich einsam zu fühlen  
  • reflektiert & gewissenhaft
  • geduldig & ausdauernd  
  • immaterielle Werte sind wichtiger als Statussymbole  

 

Schwächen der Intros

  • oft unter sich selbst unter Wert verkaufend
  • zurückhaltend und dadurch oft unterschätzt
  • kontaktscheu, wirken in größeren Gruppen weniger souverän und passiv
  • brauchen länger zum Entscheiden und Handeln
  • fühlen sich in einem extrovertierten Umfeld eher unwohl
  • verschlossen und wirken auf andere daher oft arrogant und unnahbar  
  • stehen nicht gern im Mittelpunkt
  • Mangel an Spontanität & Hang zum Perfektionismus
  • schriftliche Konversation wird oft dem direkten Gespräch vorgezogen
  • können sich schwer gegen Extrovertierte durchsetzen
  • grübeln & verfangen sich in Gedankenkarusselle
  • Konfliktscheu, machen viel mit sich selbst aus & werden selten laut  

 

Extraversion

Extrovertierte Menschen – sogenannte „Extras“ – sind kontaktfreudig, gesprächig, abenteuerlustig und aktiv. Sie ziehen ihre Kraft, indem sie unterwegs sind, unter Menschen oder einer Aktivität nachgehend. Sie treten offen, bestimmt und manchmal energisch auf und sind oft ehrgeizig.

Das Selbstvertrauen extrovertierter Menschen wirkt oftmals höher als es in Wirklichkeit ist. Sie wirken souverän im Umgang mit Anderen und verfügen über zahlreiche Kontakte, was für sie der doppelte Boden ist und sie sich darüber definieren. Fällt dieses Sicherheitsnetz aufgrund einer Streitigkeit, eines Fehlers oder sonstiger Vorkommnisse mal aus, katapultieren sich Extras schnell in eine Lebenskrise – die durchaus dramatisch sein kann.

 

Während, wie schon erwähnt, bei Introvertierten die Hirnregionen stärker aktiv sind, die für Erinnerung, Lösung und Planung zuständig sind, weisen Extrovertierte erhöhte Aktivitäten in den Temporallappen und im hinteren Thalamus auf. Hier spielen sich sensorische Prozesse ab: Extravertierte denken und reagieren damit schneller.

 

Stärken der Extras  

  • kontaktfreudig, gesellig & gute Entertainer
  • kommunikativ, gut im Smalltalk & schlagfertig
  • begeisternd & motivierend
  • entscheidungsfreudig & entscheidungsschnell
  • stehen gerne im Rampenlicht & wirken auch in größeren Menschenmengen souverän
  • scheuen keinen Konflikt & können auch mal laut werden
  • unternehmenslustig & können gut feiern  

 

Schwächen der Extras

  • reden lieber selbst statt zuzuhören & hohes Mitteilungsbedürfnis
  • weniger empathisch & teilweise verletzend
  • impulsiv & ungeduldig
  • langweilen sich schnell & suchen daher Abwechslung
  • sie können nicht gut alleine sein
  • gerne im Mittelpunkt und werden dadurch oft als Selbstdarsteller wahrgenommen
  • Fokus auf Statussymbole und Außenwirkung
  • mangelnde Selbstreflexion

 

Das eine ist nicht besser oder schlechter als das andere  

Bin ich als eher introvertierter Mensch damit automatisch langweilig und passiv? Bin ich dadurch „schlechter“? Nein. Introvertiertheit ist nicht besser oder schlechter als Extrovertiertheit. Beide Wesensarten haben ihre Stärken und ihre Schwächen. Wichtig ist, dies zu erkennen und genau so auch einzusetzen.

 

Auch bei Kindern ist es wichtig, dass sie wissen, es gibt „lautere“ und „leisere“ Menschen. Und das ist okay. Extrovertierte Menschen werden oft als Vorbild genommen und gerade Kinder versuchen sich daran zu orientieren. Wenn ein introvertiertes Kind damit einem extrovertierten nacheifert, führt das nicht selten zu einem inneren Konflikt. Wie oben geschrieben, wird ein introvertiertes niemals zu einem extrovertierten Kind. Es kann jedoch trotzdem zu einem selbstbewussten und starken Kind werden, wenn die Eltern seine Stärken erkennen und diese auch fördern.  

 

Übrigens: In Zeiten von Corona dachte man ursprünglich, dass nun die Stunde der Intros geschlagen hat, da sie sich nicht schwer tun mit dem Alleine sein. Jedoch wurde durch Studien nachgewiesen, dass es gerade die Introvertierten sind, die derzeit leiden. Warum? Weil sie eh schon mehr zum Grübeln und manchmal sogar zu depressiven Stimmungen neigen. Sie erzählen ungern von sich aus von ihren Gedanken und Ängsten. Dies haben eindeutig die Extrovertierten voraus: sie sprechen ihre Probleme von sich aus an. Daher ist es wichtig, gerade jetzt auf introvertierte Menschen zuzugehen und sie aktiv nach ihrem Gemütszustand zu fragen.    

 

 

Foto:

Emma Frances Logan via Unsplash       

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